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Enrico Wiesner

Es ist Krieg in Europa - eine Reise in die Ukraine

Aktualisiert: 8. Dez. 2023

Hallo Freunde,

Heute möchte ich euch von meiner Reise in die Ukraine berichten. Es wird eher ein emotionaler, als ein sachlicher Bericht. Dieser wird noch folgen und ich verlinke euch zwei Berichte, die meine Reisebegleiter Angela Klein und Hermann Nehls geschrieben haben. In dieser Woche hat die EU Kommission den EU Staats- und Regierungschef die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine empfohlen und ich befinde mich im Zug nach Inzell zur kritischen Akademie, bei der über das Thema - Ukraine und Europa - wie weiter? diskutiert wird.

Allerhöchste Zeit für einen kleinen Bericht!




Es ist früh für einen Sonntagmorgen, als wir uns am Berliner Hauptbahnhof treffen. Wir, dass sind die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Delegation der „Initiative Solidarität mit ukrainischen Gewerkschaften und humanitäre Hilfe“. Die Initiative wird von der Stiftung: https://www.stiftungmunda.de finanziert. Wir fahren in mehreren Etappen bis nach Kiew und im Lauf der Woche bis nach Krywiy Rih. Ziel ist es, so viel wie möglich aus erster Hand und unverzerrt zu erfahren.




Für mich persönlich ist es eine der bedeutendsten Reisen meines Lebens. Vor Jahren hätte ich wahrscheinlich den meisten Menschen einen Vogel gezeigt, hätten sie mir erzählt, dass ich eines Tages in ein Kriegsgebiet fahren würde. Nun sitze ich im Zug und mit jeder Bodenwelle, mit jedem rappeln des Zuges komme ich den Kampfhandlungen näher.

Nähe - das ist auch der Grund, warum es mich dorthin zieht. Der Krieg ist so nahe und hat so eine Bedeutung für mich, für uns in Europa, wie kaum ein anderer Konflikt (aktuell gibt es über 150 bewaffnete Auseinandersetzungen auf der Welt). Ein einziges Land liegt zwischen uns in Deutschland und der angegriffenen Ukraine. Das ist Polen, welches wir nach gerade mal zwei Stunden Fahrt erreicht haben. Anders gesagt: 30 Stunden Zugfahrt bis zum Krieg.


Eine Übersicht der Kriege weltweit, dass von dem Katapult Magazin erstellt wurde:

Link zu Katapult auf Instagram:





Wir essen im Zug und reisen bis Přemysl. Přemysl liegt direkt an der polnisch-ukrainischen Grenze. Nach dem Grenzübergang werden wir in einen Nachtzug steigen und weiter bis Kiew fahren. Die Schlangen sind lang und ich fühle mich wie in einem Film. Mir wird bewusst, dass es das erste mal ist, das ich ein Land außerhalb der europäischen Union über den Landweg betrete. Sonst bin ich immer geflogen und es ist anders. Die kleinen Holzkästen in der Eingangshalle des Bahnhofes in denen die Grenzbeamten sitzen, wirken schäbig und für mich aus der Zeit gefallen. Die Kontrolle fühlt sich auch anders an, als die Flugreisen. Hier wird es ernst.


Kaum sind wir über die Grenze steigen wir in den Zug nach Kiew. Das erste was mir auffällt als wir fahren, ist der andere Rhythmus der Fahrgeräusche. Im ukrainischen Takt der Gleise und auf den typischen, breiteren Spurweite, die man überall in der ehemaligen Sowjetunion findet, werde ich in einem unruhigen Schlaf geruckelt.


Morgens, der 10.10.23 - Kiew

Wir werden mit zwei Autos abgeholt. Den Tag über folgen unterschiedliche Gespräche, hier eine kleine Liste unserer Gesprächspartner im Lauf der Woche: Gemeinsame Treffen gab es in Kiew mit der Gewerkschaft Bildung und Wissenschaft (FPU), der Unabhängigen Gewerkschaft der Eisenbahner (in keinem Dachverband); mit VertreterInnen von Socialny Ruch; der Gewerkschaft der Beschäftigten der Elektroindustrie (FPU), mit dem Vorsitzenden der FPU sowie den respektiven Vorsitzenden einiger angeschlossener Einzelgewerkschaften, einem Vertreter der AWO, der Vorsitzenden des Jugendverbands der FPU und mehreren Initiatorinnen der Initiative #BeLikeNina.


- wer mehr über ein Treffen mit Krankenschwestern in Kiew erfahren möchte kann hier den Reisebericht von Angela Klein lesen: https://www.sozonline.de/2023/11/reise-in-die-ukraine/ -


Heute möchte ich euch aber nur von drei Gesprächen genauer berichten.

  1. Eine anarchistische Kampfgruppe

  2. Eine freie Gewerkschaft der Krankenhausbeschäftigten

  3. Die Stahlarbeiter bei Arcelor Mittal

Nach den guten ersten Gesprächen in Kiew habe ich einen ersten Eindruck gewonnen. Angela hat es in ihrem Bericht treffend formuliert: „Es gibt schon noch den alten Anschein, zwei männliche Vorsitzende und die Frauen, die beigesetzt wirken.“

Ich möchte ergänzen, dass ich wirklich daran glaube, das die Ukrainerinnen und Ukrainer, die ich getroffen habe, etwas anderes von ihrer Zukunft erwarten, als ein weiter so. Sie wollen keine Korruption, sie wollen keinen Stillstand und sie wollen in die EU.


1. Die anarchistische Kampfgruppe

Ca. 50 internationale Kämpfer sind in dieser Gruppe organisiert. Der überwiegende Teil sind Ukrainer, aber mir wurde erzählt, dass ebenfalls Bela-Russen, Russen, Iren und US Amerikaner für sie kämpfen.

Unser Treffen ist mehr oder weniger Zufall. Unser ursprüngliche Plan sah vor, in den Räumen der Rosa Luxemburg Stiftung ein Gespräch mit Socialny Ruch zu führen. Während des Gespräches betreten aber immer wieder uniformierte den Raum und suchen sich aus aufgereihten Kisten Ausrüstung aus. Daraufhin frage ich nach und Oleg (nicht der echte Name), erzählt mir die Geschichte. Sie hätten zu Beginn des Krieges nach Wegen gesucht, sich selbst und ihrer politischen Einstellung treu zu bleiben und trotzdem einen Beitrag für ihre Leute zu leisten. Zu Beginn haben sie die regulären Einheiten unterstützt. Das reichte ihn aber nicht aus und sie baten darum, einen eigenen Frontabschnitt zu verteidigen. Das wurde ihnen gewährt und nun organisieren die Verteidigung eines 300m langen Streifens. Mit allem, was dazu gehört, Versorgung, Aufklärung, Organisation von physischer Betreuung (die bei ihnen besser sei, als bei den regulären Kräften) bis zum Urlaub. Ist das noch Anarchie, frage ich. Er lacht und sagt, wir machen mehr, aber das kann ich dir nicht genauer erklären. Wir sind auch hinter den Linien aktiv. Sabotagen, frage ich. Er zuckt die Schultern.


2. Die freie Krankenhaus Gewerkschaft

Für dieses Treffen sind wir nach Krywiy Rih gefahren, wieder mit einem Nachtzug. Die Stadt liegt etwas 300 Kilometer von der aktuellen Front entfernt und ist in Reichweite der Raketen. Uns wird eingeschärft, jeden Luftalarm ernst zu nehmen und sich nicht auf das Glück zu verlassen. Die Bevölkerung Vorort sei nach zwei Jahren Daueralarm abgestumpft.

Wir kommen noch im Dunkeln der Nacht an. Hunderte Vögel sitzen auf den Leitungen und der erste Schimmer der Tages ist am Himmel zu sehen. Ein wunderschönes Bild.

Es gibt keine ordentlichen Bahnübergänge, sondern eher provisorische Bretter. Auch das Bahnhofsgebäude wirkt etwas entrückt. Das Gebäude ist sehr schön und erinnert an die Sowjetzeit. Was stört, ist das komplette drumherum. Es ist vieles kaputt, die Schlaglöcher riesig und alles wirkt vernachlässigt. Es wirkt nicht so, als sei das erst seit dem Krieg so.



Auf dem Vorplatz warten zwei junge Ärzte.


Die beiden haben den vielleicht nachhaltigsten Eindruck auf mich gemacht. Diese Selbstlosigkeit und der klare moralische Kompass und die Entschlossenheit haben mich nachhaltig inspiriert. Wir sind im dauernden Kontakt und haben Unterstützung vereinbart. Während des Kriegs aber vor allem danach, um die Gewerkschaften kämpferischer aufzustellen.

Wir können nicht in ihr Krankenhaus, denn es hat 300 km weiter entfernt einen Bombenangriff gegeben und die Verwundeten werden ins Hospital eingeliefert. Das Krankenhaus steht jetzt unter Militäraufsicht. Vielleicht auch besser, denn die Bilder die sie uns später zeigen, sind schlimm genug und ich will mich auf die Geschichte und erträgliche Fotos beschränken.

Sie haben es geschafft, im wahrsten Sinne des Wortes, eine Operation auf den Küchentisch durchzuführen und das Auge und das Bein eines junges Mädchen zu retten. Sie wurde von Granatsplittern getroffen

Sie berichten uns, man lässt die Medizin nicht im Stich, aber die Mittel sind knapp. Die Regierung ist sehr hilfsbereit, auch NGOs helfen, aber oft nicht mit dem, was man braucht. Die medizinische Versorgung ist in der Ukraine immer noch kostenlos. Die Gratisversorgung hat allerdings Grenzen. Es gibt sie nur in den öffentlichen Krankenhäusern, in den privaten muss man bezahlen.

Die Gewerkschaft gehört zum Krankenhaus hier, aber in anderen Regionen gibt es sie auch in den Krankenhäusern. Sie engagieren sich für Selbsthilfe sowohl der Kollegen als der Patienten. Sie leisten eine zusätzliche medizinische Hilfe neben dem, was der Staat bereitstellt. Er hat die Überzeugung, dass es sein Beruf ist, den Menschen zu helfen. Deshalb ist es für ihn normal, zusätzliche Hilfe zu leisten.




Wir fragen nach, was wir uns unter zusätzlicher Hilfe vorzustellen haben.

Manchmal ist es wichtig, dass man bessere Medikamente und Ausrüstungsgüter bekommt, als vorgeschrieben sind. Dafür verwenden sie sich. Wenn dringender Bedarf besteht, kann er Christian H. in Hamburg anrufen und ihn bitten, dass er medizinische Produkte beschafft.


Was machen sie?

Verbesserung des med. Systems, Reparatur der Gebäude und Einrichtungen, Optimierung der med.Versorgung und der Reha und Beschaffung solcher Einrichtungen. Es geht vor allem um posttraumatische Belastungsstörungen. Nicht nur bei Soldaten, sondern auch bei Angehörige. Auch physische Reha.

Kämpfen sie auch für gute Arbeitsbedingungen?

Wenn sie diese Arbeit machen, entwickelt sich allmählich ein privater Sektor. Da sind die Löhne viel besser, das ist dann schon eine Verbesserung.

Gesetzlich sind Ruhepausen für das Personal vorgesehen. Tatsächlich können sie kaum eingehalten werden.

Ist er gar nicht gegen die Privatisierung?

Nein, er hat nichts dagegen. Die staatlichen Einrichtungen können nicht immer ordentlich arbeiten. Zumal in der Fläche, nicht nur in Kiew. In die Bresche springen dann Private ein. Wer finanziert das? Sie müssen einen Fonds suchen, mit dessen Hilfe auch mittellosen Menschen geholfen wird.


3. Stahlwerker bei Arcelor

Von ihnen möchte ich euch berichten, weil es die Dimension des Kriegs verdeutlicht und auch eine für sich stehende Geschichte zur inneren Verfasstheit der Ukraine bereit hält. Aus den Nachrichten oder anderer Literatur haben es sicher schon einige von euch gelesen, dass die Ukraine zu den ärmsten Ländern und korruptesten Ländern der Welt zählt. Der Reihe nach.


Der Kontakt zur Vorsitzenden Natalya Marynyuk war mit Hilfe der IGM, Intern. Abt., zustande gekommen. Das Treffen fand auf dem Firmengelände im Gewerkschaftshaus statt. Begrüßt wurden wir von Mitarbeiter:innen und dem Rektor der Staatlichen Hochschule für Wirtschaft und Technik.

Natalya ist sehr offen und freut sich über unseren Besuch. 2022 organisierte die IG Metall Bremen zwei große Hilfslieferungen an das Werk. Die Schweizer Gewerkschaften schickten 2022 eine Geldspende in Höhe von 80.000 Euro. Mit dem Geld wurde von der Gewerkschaft Kleidung für die 3000 Kollegen angeschafft, die an der Front kämpfen.



Doch so einfach ist das nicht und wir erfahren eine unglaubliche Geschichte:


Als der Krieg begann, waren die russischen Truppen bis auf wenige Meter vor die Stadt vorgerückt. Es musste schnell gehen und natürlich spielte auch Überforderung eine Rolle, aber das kann den krassen Fall Korruption nicht entschärfen.

Die zentrale Regierung um Zelensky hatte Gelder an die Oberbürgermeister verteilt, um die Soldaten, die unter andrem aus den Reihen der Stahlarbeitern rekrutiert wurden, mit den Dingen auszustatten, die sie für den Einsatz benötigen. Die militärische Situation entschärfte sich zu nächst, spitze sich dann aber dieses Jahr erneut zu, als bei Prüfungen und kontaktieren der zentralen Regierung sich herausstellte, dass mehrere Milliarden UAH in die Taschen der korrupten Elite gesteckt wurden. Deswegen haben die Frauen und Gewerkschaften mit mehreren tausend Demonstranten die Straßen blockiert. Es war ein Protest im April dieses Jahres. Leicht bewaffnete Soldaten der 129. Brigade wurden an die Front geschickt und wurden aufgerieben, weil sie so schlecht ausgerüstet. Die Frauen haben dagegen protestiert, das Rathaus besetzt und die Stadtregierung verprügelt.

Man weiß nicht genau, aber die Stadtregierung von Krywiy Rih war daran beteiligt. Der Sohn des ehemaligen Bürgermeisters wird beschuldigt. Der Bürgermeister wurde abgesetzt.



Zurück zum Werk: Das Werk hat aktuell 10.000 Beschäftigte. Vor dem Krieg waren es 22.000 Tausend. Mehrere Tausend Beschäftigte sind jetzt zu Hause. Die Gewerkschaft hat ausgehandelt, dass sie zwei Drittel ihres Gehalts bekommen. Das Werk leidet nicht unter zu wenig Aufträgen. Die Produktion musste reduziert werden, weil die Transportwege für Eisenerz zusammengebrochen sind. Vor dem Krieg wurden 80 Prozent der Erzeugnisse über das Schwarze Meer verschifft. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Das Eisenerz wird jetzt zu wesentlich höheren Preisen mit der Bahn zur Donau gebracht und von dort verschifft.


Der Gewerkschaft ist die Sicherheit der Beschäftigten ein besonderes Anliegen. Es fehlen ausreichende und adäquate Arbeitskleidung und Schuhe, die gerade bei der Produktion von Eisenerz besonders wichtig sind. Firmen, die diese Artikel herstellen, können jetzt nicht mehr liefern.

Luftalarm und wir führen unser Gespräch im Luftschutzbunker weiter:


Ein weiterer Schwerpunkt der Gewerkschaft liegt auf der Qualifizierung der Beschäftigten. Mit der Staatlichen Hochschule für Wirtschaft und Technologie gibt es einen engen Austausch. Das Ausbildungszentrum, das noch aus Zeiten der Sowjetunion stammte, und fünf Gebäude der Hochschule wurden Ende Juli von russischen Raketen zerstört. Ich habe mit ihnen vereinbart, sie gemeinsam mit der IG Metall und deutsch Kollegen von Arcelor Mittal den Wiederaufbau konzeptionell zu unterstützen.



Hier ein Artikel in der SOZ von Hermann Nehls mit weiteren Details über Arcelor: https://www.sozonline.de/2023/11/bei-arcelormittal/


Es gäbe noch viel mehr zu berichten. Ein weiterer Blog Beitrag wird dazu folgen.


Ich hoffe euch einen kleinen Einblick gegeben zu haben. Falls ihr Fragen habt und mehr erfahren wollt oder auch Interesse an der Ukraine und ihrer Unterstützung habt, abonniert den Blog oder schreibt mich an!





Diskussion bei der Kritischen Akademie in Inzell

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